Schweiz: Bangen wegen Wassermassen, Menschen fluchtbereit

- Im Lötschental steigt das Wasser durch einen Gletscherabbruch, wodurch Gemeinden zur Flucht bereit sein müssen.
- Ein Eingreifen ist aufgrund der instabilen Lage nicht möglich, Experten überwachen die Situation.
- Der Gletscherabbruch wird durch den Klimawandel verursacht, der Permafrost taut und macht das Gestein instabil.
Im Schweizer Lötschental steigt das Wasser hinter dem gigantischen Schuttkegel durch den Gletscherabbruch unaufhörlich. Die Lage ist bedrohlich, die Kante des meterhohen Eis-, Fels- und Geröllbergs ist fast erreicht, heißt es vom Katastrophenstab. Die Behörden rechnen stündlich damit, dass das Wasser des Flusses Lonza sich einen Weg Richtung Tal bahnt.
Zwei Gemeinden weiter unten sind Bewohner aufgerufen, das Nötigste zu packen. "Wir fordern die Bewohner auf, persönliche Vorbereitungen zu treffen, um innert möglichst kurzer Zeit die Wohnungen verlassen zu können", teilen die Gemeinden Steg-Hohtenn und Gampel-Bratsch auf ihrer Webseite mit. Die Menschen sollen bei einer Flutwelle oder Gerölllawine innerhalb kürzester Zeit zur Flucht bereit sein. Sie werden unter anderem über die Notfall-App Alertswiss auf dem Laufenden gehalten.
Mit Blick auf den Schuttkegel sagte der Sprecher des Regionalen Führungsstabs im Lötschental, Matthias Ebener: "Zurzeit ist unbekannt, ob das Wasser durchfließt oder aufgesogen wird." Noch sei das Wasser nicht über den Schuttkegel geschwappt. "Es sind Experten vor Ort, die die Lage immer beobachten."
Vorsichtiger Optimismus
Betroffen sind die Gemeinden Gampel und Steg rund 20 Kilometer unterhalb des verschütteten Dorfes Blatten. Insgesamt wohnen in dem Gebiet mehr als 2.000 Menschen, aber der Aufruf gilt nur für die Ortsteile am Talgrund, wie die Gemeinden mitteilen. In der Nähe fließt die Lonza in die Rhone. Oberhalb von Gampel und Steg ist bei Ferden ein Staudamm und Auffangbecken. Dort wurde bereits Wasser abgelassen, aber ob das Becken die ganzen Wassermassen auffangen kann, ist unklar.
Der Kantonsgeologe Raphaël Mayoraz äußerte sich nun vorsichtig optimistisch, dass das Schlimmste doch nicht eintrifft. Dem französischsprachigen Sender RTS sagte er: "Das Wasser beginnt sich seinen Weg durch die 2,5 Kilometer lange (Schutt-) Ablagerung zu bahnen. Mit fortschreitender Zeit reduziert sich langsam aber sicher das Risiko eines Katastrophenszenarios."

Oben das Dorf vor dem Abbruch des Gletschers, unten danach.
Christian Studer von der Dienststelle Naturgefahren des Kantons Wallis beschrieb am Donnerstagabend im Schweizer Fernsehen, wie ein solches Szenario aussehen könnte. "Das "worst case"-Szenario ist, dass plötzlich entgegen den aktuell als eher realistisch eingeschätzten Szenarien viel mehr Wasser und Geschiebe kommt, das das Staubecken Ferden nicht mehr zu schlucken vermag."
Flutwelle oder Gerölllawine
Denkbar ist nach Expertenangaben, dass das Wasser sich einen Weg durch den Schuttberg bahnt, wieder in das Flussbett der Lonza kommt und gemächlich Richtung Tal fließt. Weil der Schuttberg aber sehr instabil ist, können Experten nicht ausschließen, dass das Wasser sich plötzlich einen breiteren Canyon bahnt und nach unten schießt. Ebenso ist möglich, dass dabei Geröll- und Gesteinsmassen mitgerissen werden.
Das Katastrophengebiet liegt im oberen Lötschental auf rund 1.500 Metern. Oberhalb ist instabiler Fels seit rund zwei Wochen abgebröckelt. Weil immer mehr Felsbrocken und Geröll auf den Birschgletscher donnerten, brach dieser am Mittwochnachmittag ab und stürzte samt Geröll und Steinen ins Tal.
Das Dorf Blatten ist fast völlig unter meterhohem Schutt verschwunden. Die meisten der wenigen Häuser, die verschont blieben, sind inzwischen durch die aufgestaute Wasser der Lonza überflutet. Die rund 300 Einwohner von Blatten waren vergangene Woche in Sicherheit gebracht worden. Ein Einheimischer, der sich am Mittwoch im Katastrophengebiet aufhielt, wird noch vermisst.
Eingreifen unmöglich
Bewohner und Behörden sind zum Abwarten verdammt. Es besteht keine Möglichkeit, den Abfluss etwa durch das Fräsen einer Rinne in den Schuttberg in geordnete Bahnen zu lenken. Dafür ist das Gelände zu instabil. Menschen und Maschinen könnten einbrechen. "Unternehmen können wir leider wenig, weil die Sicherheitslage vor Ort es nicht zulässt, dass wir mit schweren Maschinen eingreifen können", sagte Studer. Die Armee steht aber bereit, sobald es die Lage zulässt, mit Räumungsarbeiten zu beginnen.
Zudem drohen weitere Felsabbrüche. An der ursprünglichen Abbruchstelle am Kleinen Nesthorn können immer noch mehrere hunderttausend Kubikmeter Gestein abstürzen. Zudem wurden bei dem Gletscherabbruch am Mittwoch Geröll und Schuttmassen über den Talboden hinweg und auf der gegenüberliegenden Hangseite hochgeschoben. Auch sie könnten als Gerölllawine wieder abrutschen.
Klimawandel verursachte Gletscherabbruch von Blatten
Die beschleunigte Bewegung des Birchgletscher in der Schweiz hängt mit dem Klimawandel zusammen. Das sagte der Permafrost-Experte Christophe Lambiel von der Universität Lausanne in einem Interview mit der Zeitung Le Nouvelliste und der Plattform Arcinfo vom Freitag.
Die 500 Meter hohe Felswand über dem Birchgletscher liege in der Permafrostzone, erklärte der Professor der Universität Lausanne. Der Permafrost taut aufgrund der Klimaerwärmung. Dadurch wird das Gestein laut Lambiel instabil. Das herausgebrochene Gestein wiederum belastete den Gletscher und beschleunigte diesen auf dem steilen Hang.
Die Nordhänge über 3.000 Meter Seehöhe befinden sich in den Alpen im Permafrost, sagte Lambiel weiter. Die dauernd gefrorenen Böden erwärmten sich indes in den letzten zehn Jahren stark, vor allem seit 2022.
Fatale Beschleunigung
Er kenne in den Alpen keinen ähnlichen Bergsturz wie den von Blatten. Drei Millionen Kubikmeter Gestein stürzten auf den Gletscher und später auf das Dorf. Der ohnehin schon schnell nach unten fließende Birchgletscher habe sich durch die Gesteinslast noch stärker beschleunigt und sei schließlich zusammengebrochen, sagte der Lausanner Professor. Das sei eine noch nie dagewesene Abfolge.
Seiner Ansicht nach rührt die Anfälligkeit des Gebiets oberhalb von Blatten von der Instabilität des Gesteins und des Gletschers her. Damit bestehe eine eindeutige geologische Komponente. Da die Bewegung des Berges bereits lange anhielt, handelt es sich laut Lambiel um eine tiefe Rutschung, "die sich in den letzten Tagen brutal beschleunigt hat".
Kommentare