An einem warmen April-Abend steht Markus Reisner in einem Seminarraum im Verteidigungsministerium am Wiener Donaukanal. Er trägt Uniform, wie fast immer. Und während er auf zwei Bildschirme mit Power-Point-Folien zeigt, erzählt er vom Krieg und wie er seine Recherchen anlegt.
Um zu verstehen, wie Reisner sein "Lagebild" erstellt, beginnt man am besten damit, was er nicht tut. „Ich verwende keine nachrichtendienstlichen Informationen“, sagt er.
Das bedeutet: Reisner verzichtet auf "Top Secret"-Informationen von Nachrichten- oder Geheimdiensten. Er will nicht in die Verlegenheit kommen, sich zu verplaudern. Es ist aber gar nicht nötig, geheime Dokumente zu verwenden. Denn fast alles, was er verwendet, ist öffentlich zugänglich - auch für interessierte Laien.
Das beginnt beim Trivialsten: Bei Analysen in gut recherchierenden Medien und Fachzeitschriften. „Qualitätsmedien wie die New York Times haben direkte Quellen, also Gesprächspartner, im Weißen Haus und im Pentagon.“ Wer die richtigen Autoren kennt und regelmäßig liest, weiß, wie die Entscheidungsträger ticken.
Der Oberst hat Bücher mitgebracht. „WAR“ von Journalisten-Legende Bob Woodward ist dabei. Reisner liest eine Menge. Biografien, Historisches, militärwissenschaftliche Literatur, vieles davon auf Englisch.
Das Meiste von dem, was Reisner über die Front und die Entwicklungen am Kriegsschauplatz erfährt, holt er sich aus dem Internet. "Die Sozialen Netzwerke zum Beispiel sind ein unglaublicher Fundus, die Informationen liegen einem zu Füßen. Man muss nur an der richtigen Stelle suchen.“
Bis spät in die Nacht sichtet er bisweilen Twitter, Signal-Gruppen und andere Kanäle. „Es gibt Blogger, die mit der Hilfe von Künstlicher Intelligenz täglich die zerstörten Geräte zählen und dokumentieren.“
Bis hierhin klingt das alles nicht nur plausibel, sondern fast einfach. So, als könnte das jeder machen. Vorausgesetzt, er oder sie hat genug Zeit.
Tatsächlich gibt es aber einen erheblichen Unterschied. Markus Reisner ist für seine Suche im Netz und in der Literatur ziemlich gut ausgebildet - auf vielerlei Arten.
Zunächst einmal ist er Soldat: Als Offizier hat Reisner die Militärakademie durchlaufen, später absolvierte er den Generalstabslehrgang und verbrachte Jahre in Kriegs- bzw. Krisenregionen: Bosnien, Kosovo, Afghanistan, Mali, der Tschad und die Zentralafrikanische Republik. Zehn Jahre diente er in der Elite-Einheit der Armee, dem Jagdkommando.
Warum ist das wichtig?
Wenn Reisner spätnachts ein Telegram-Video sieht, das Soldaten, Privatpersonen oder die Propaganda-Abteilungen aus Kiew oder Moskau online stellen, analysiert er es mit anderen Augen. Wo Zivilisten einen Panzer sehen, sieht Reisner das Modell: Ist es eine Haubitze, ein Kampf- oder ein Jagdpanzer? Er kennt Bauart und Spezifika - etwa, wo bei einem Kampfpanzer die Munition gelagert ist (das ist für einen Treffer ziemlich wichtig). Iim Idealfall sieht er die Markierung der Einheit. Und weil er weiß, welche Einheit wann von wem mit welchem Gerät beliefert worden ist, kann er einschätzen, was er sieht - und ob es damit zusammenpasst, was unter dem Video steht.
Neben dem Soldatischen kommt Reisner seine zivile Ausbildung zugute: Er hat Jus und Geschichte studiert, er weiß, was in der Wissenschaft zählt: Thesen aufstellen, sie prüfen - und notfalls verwerfen. Auch wenns unbequem ist. „Da hat man ein bisserl was in der Schublade“, sagt er.
Ein Soldat, der wie ein Wissenschafter denkt? Auch das gibt es öfter.
Bei Reisner kommt etwas Drittes hinzu: persönliche Erfahrungen und Beziehungen.
„Im Kosovo hatte ich 60 Ukrainer unter meinem Kommando.“ Der Niederösterreicher hat sich schon damals für deren Sicht auf die Welt interessiert. „Wir haben Stunden und Tage damit verbracht, den Angriff 2014 zu analysieren“. Zur Erinnerung: Damals hat sich Russland die ukrainische Krim einverleibt.
Bis heute hält er mit den Kameraden Kontakt. Es ist ein Moment, in dem Reisner an diesem Abend im Ministerium sehr ernst wird: „Manche sind mittlerweile tot."
Wer Markus Reisner länger zuhört, der versteht sehr schnell, was ihn antreibt. Er will sich so nüchtern und objektiv wie nur irgend möglich einen Blick auf die Dinge verschaffen.
Bei einem Vortrag in Deutschland sagte Reisner zu angehenden Offizieren, er sei ihre unbedingte Pflicht, Vorgesetzten immer die Wahrheit zu sagen; gerade auch dann, wenn die Lage aussichtslos sei.
Ein Soldat wollte daraufhin von ihm wissen, ob er nicht an seine Kinder denke. Wer so kompromisslos auf den Krieg schaue, der mache sich Feinde. Auf beiden Seiten.
Reisner macht den versteckten Vorwurf zu seinem Argument. Er denke ständig an seine Kinder. Genau deshalb müsse er jetzt sehr laut sagen, was seiner Ansicht nach passiert und Europa und der Welt droht. Denn wenn er sich in ein paar Jahren einen Vorwurf genau nicht machen wolle, dann den, dass er geschwiegen oder die Lage schöngeredet habe.
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