Paulus Hochgatterer leitet die Klinische Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Uniklinikum Tulln.
Psychische Erkrankungen und erlittene Kränkungen können in Kombination mit dem Zugang zu Waffen Amokläufen an Schulen Vorschub leisten, sagt Experte Paulus Hochgatterer.
Nach dem Amoklauf an einer Grazer Schule herrscht im ganzen Land Betroffenheit. Die Gewalttat lässt viele sprachlos zurück. "So eine Tat ist schwer zu begreifen, weil unsere Psyche so gebaut ist, dass es schlicht nicht begreifbar ist, wenn ein Mensch andere tötet – das ist in der Vorstellung unserer menschlichen Existenz nicht vorgesehen", sagt Kinder- und Jugendpsychiater Paulus Hochgatterer.
Hochgatterer leitet die Klinische Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Tulln. Im Interview mit dem KURIER schildert der Experte, was man aus der Forschung über die Dynamik von Amokläufen an Schulen weiß, welche Rolle Mobbing spielen und wie man junge Menschen in Krisen auffangen kann.
KURIER: Viele treibt gerade die Frage nach dem Warum um. Ist es aktuell möglich, darauf eine seriöse Antwort zu geben?
Paulus Hochgatterer: Nein. Wenn man professionell an die Sache herangeht, muss man sagen, dass es zu früh für seriöse Angaben ist. Als Kinder- und Jugendpsychiater müsste ich etwas aus der Biografie des Menschen, dem frühen Leben, aber auch aus seiner aktuellen Lebenssituation wissen, um eine ernsthafte Antwort geben zu können.
Sogenannte School Shootings passieren vor allem in den USA sehr häufig. Was geht in den Schützen dabei vor?
Was individuell in ihnen vorgeht, wissen wir nicht. Es ist davon auszugehen, dass eine Trias, also drei Dinge, zusammentreffen: Das Erste ist eine zugrunde liegende psychische Störung oder Erkrankung beim Täter, zum Beispiel eine narzisstische Persönlichkeitsstörung oder eine wahnhafte Erkrankung. Das Zweite ist eine aktuelle Auslösesituation, die in der Regel mit Enttäuschung oder Zurückweisung zu tun hat. Und das Dritte – und hier kommen wir zum Grund, warum Österreich bzw. Europa sich bei der Zahl der School Shootings doch gravierend von den USA unterscheiden – ist die Verfügbarkeit von Schusswaffen. Wenn sie verfügbarer sind, werden sie auch leichter benutzt.
Der Schluss, dass Amoklaufende immer psychisch krank bzw. auffällig sind, ist also zulässig?
Bei Tätern, die schon einmal einen Psychiater gesehen haben oder in Therapie waren, weiß man es mit Gewissheit. Bei den anderen kann man nur spekulieren, aber im Grunde kann man sagen: Jemand der zehn andere Menschen und sich selbst erschießt, muss zwangsläufig ein gravierendes Problem innerhalb seiner Psyche haben.
Der Amoklauf in dem Grazer Oberstufenrealgymnasium mit elf Toten ist für die Angehörigen der Opfer, die Verletzten, die Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte ein seelisch extrem belastendes Ereignis. Betroffenheit herrscht in ganz Österreich.
Kann ein möglicher Auslösereiz für Außenstehende banal anmuten?
Durchaus. Man kann in diesem Kontext das Bild vom Tropfen verwenden, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Also die eine Enttäuschung oder die eine Zurückweisung, die gerade noch gefehlt hat, um die Tat in Gang zu bringen.
Gibt es Eigenschaften, die School-Shooting-Schützen einen?
Sie sind in der Regel männlich, dieser Umstand ist statistisch eindeutig. Ansonsten findet man was grundpersönliche Eigenschaften oder das soziale Milieu anlangt, wenig belastbare Gemeinsamkeiten.
Warum werden Amokläufe an Schulen in den meisten Fällen von Burschen oder jungen Männern verübt?
Aggression ist historisch und kulturell betrachtet immer schon etwas gewesen, das eindeutig auf Seiten des Mannes und nicht auf der Seite der Frau lag. Das scheint nach wie vor so zu sein. Über hormonelle Hintergründe, kulturelle Zuschreibungen oder Rollenbilder konkret zu spekulieren, wäre aber unseriös.
Kann Mobbing ein Auslöser sein?
Ich wäre sehr vorsichtig damit, in der Auseinandersetzung mit der Tat in Graz die völlig an den Tatsachen vorbeigehende Fantasie zu erzeugen, dass jedes Mobbing zu einem School Shooting führt. Das ist unsinnig. Mobbing kann ein Baustein in einer Dynamik sein, die in einem Schul-Amoklauf gipfelt.
Die psychische Dynamik hinter School-Shootings ähnelt im Grunde dem, was wir als präsuizidales Syndrom kennen. Das entspricht auch der Zuordnung von Amokläufen zum Phänomen des erweiterten Suizids. Dabei kommt es zu einer massiven psychischen Einengung. Die Vielfalt im Denken und in den Affekten geht völlig verloren, ebenso in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Es kommt zur sozialen Isolation. Zusätzlich entsteht eine Einengung der Wertewelt: Das, was früher einmal wertvoll war, auch Orientierung gegeben hat, fällt weg. Im Falle von Amokläufen wird bei dieser suizidalen Dynamik nicht nur an die Selbsttötung gedacht, sondern auch daran, andere mit in den Tod zu reißen.
Wie könnte es gelingen, Menschen, die sich von der Gesellschaft abgetrennt fühlen, aufzufangen?
Für mich als Kinder- und Jugendpsychiater gibt es nur eine Antwort auf diese Frage, die das Kernelement unseres Arbeitens beschreibt: Es kann nur mit Beziehung gelingen. Wenn es gelingt, Menschen in eine Beziehung zu bringen, in der sie sich gehört, gesehen und vielleicht sogar ein Stück verstanden fühlen, hat man den entscheidenden Faktor in der Hand. Das Schwierige ist, dass Menschen, die das Risiko eines Amoklaufs in sich tragen, tendenziell zu einer Gruppe von Menschen gehören, die einem das In-Beziehung-Treten nicht ganz leicht machen.
Der Amokläufer von Graz war bereits seit einiger Zeit nicht mehr an der Schule. Er kannte seine Opfer mit großer Wahrscheinlichkeit nicht. Geht es bei School Shootings eher um den Ort Schule an sich?
Insgesamt kann man sagen, dass die Schule für junge Menschen ein sehr wichtiger Ort ist, wo viel Zeit verbracht wird und wichtige Schritte in der kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung vollzogen werden. Da die Schule ein derart bedeutender Ort ist, wird sie immer wieder auch zur Projektionsfläche für Dinge, die ihre Ursachen womöglich woanders haben.
Wenn junge Erwachsene Gewalttaten verüben, wird oft mit dem Finger auf aggressive Computerspiele gezeigt. Welche Rolle können sogenannte Ego-Shooter-Games in puncto Gewaltbereitschaft spielen?
Diese Spiele können relevante Effekte haben, wenn es die bereits genannten Einengungsphänomene schon gibt. Dann ist es möglicherweise so, dass durch die Spiele Bestätigung in der Gewaltbereitschaft erzeugt wird.
Nach Amokläufen steigt das Risiko für Nachahmungstaten. Wie kann man vorbeugen?
Aus der kinder- und jugendpsychiatrischen Perspektive mit genau jenem Mittel, das auf der anderen Seite auch in der Behandlung von traumatisierten Menschen benützt wird: mit Reden. Gerade in einer Situation wie jetzt sollte man sich, wenn man bei einem oder einer Jugendlichen Isolation und verändertes Verhalten wahrnimmt, nicht abwenden, sondern ins Gespräch gehen und professionelle Hilfe anbieten.
Welche Rolle Medien in der Suizidprävention spielen, wissen wir. Die Einigung, auf eine offensive Berichterstattung zu verzichten, hat Früchte getragen. Bei Ereignissen wie jetzt in Graz ist die Sache komplexer, weil es nicht nur um Suizid, sondern auch um eine Gewalttat geht, die zehn Menschen das Leben gekostet hat. So eine Tat hat ein Recht auf eine gewisse Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit. Eine offensive Berichterstattung darüber verringert allerdings die Wahrscheinlichkeit von Nachahmungstaten mit Sicherheit nicht.
Wie kann man Kinder und Jugendliche – auch jene, die nicht unmittelbar betroffen sind, aber in den Medien davon erfahren haben – in diesen Tagen bei der Verarbeitung unterstützen? Was gibt Halt in dieser schwierigen Zeit?
Ein wichtiger Punkt ist, dass man darauf achtet, dass die Konfrontation mit den Ereignissen behutsam und entwicklungsadäquat erfolgt. Es macht einen entscheidenden Unterschied, ob ich mit einem Sechzehnjährigen oder mit einem Volksschulkind darüber spreche. Auch wichtig ist, dass man die eigene Betroffenheit oder Überforderung damit als Elternteil oder Lehrperson nicht verleugnet. Es darf sichtbar werden, dass man als Erwachsener auf solche Dinge nur bedingt vorbereitet ist. Und das Wichtigste ist, dass man signalisiert, dass diese Dinge besprechbar sind und dass man damit nicht allein bleiben muss.
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